Aufgelesen: Drei Mal Gleichheit, Teil II

Horst Kahrs und Klaus Lederer beschreiben Gleichheit als zentrale Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik. Für sozialistische Politik folgt daraus eine doppelte Herausforderung: die ungleiche Verteilung von Reichtum bzw. Mangel und die ungleiche Verteilung der planetarisch begrenzten Ressourcen.

Im ersten Teil unserer Miniserie ging es um César Rendueles neues Buch, in dem der spanische Soziologe beschreibt, wie wir mit Gleichheit als kollektivem Ziel aus der elitären Dystopie ausbrechen können. Rendueles sieht in einem linken Projekt der universellen Gleichheit »die einzige realistische Option, um die größte Probe zu bestehen, mit der die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren konfrontiert war.«

Das hier die Klimakrise, besser vielleicht: die biophysikalische Existenzkrise gemeint ist, in der wir viel bereits viel tiefer stecken, als es manchen bewusst sein dürfte, ist offensichtlich. Auch Horst Kahrs und Klaus Lederer sehen in dem »Erhalt der planetarischen Lebensgrundlagen« keinen »Luxus, den man sich leisten können muss«, sondern den  »Imperativ eines linken Freiheitsverständnisses, das auch die nachfolgenden Generationen einschließt. Es versteht sich von selbst, dass diese Prämisse global zu denken ist, obgleich die politische Arena nach wie vor zuallererst eine nationalstaatliche bzw. europäische bleibt.«

So steht es in ihrem Diskussionsbeitrag für die »Blätter«. Der Text des Sozialwissenschaftlers Kahrs und des linken Berliner Kultursenators Lederer ist  an die LINKE gerichtet – eine Aufforderung, bei der Analyse der gegenwärtige Krise über den viel zu kleinen Tellerrand personalisierter Konflikte hinaus zu blicken. Es solle vielmehr darum gehen, zu klären, »was ihr programmatisches Kernanliegen sein sollte: auszuarbeiten und auszuformulieren, wie eine an sozialistischen Maßstäben ausgerichtete Politik tatsächlich zu besseren Lebensverhältnissen führen kann. Oder anders ausgedrückt: was unter dem Leitprinzip des demokratischen Sozialismus heute konkret zu verstehen ist.« 

Das ist eine große Frage, aber sie sich immer wieder neu zu stellen ist in einer Welt, die sich weiterdreht, unverzichtbar. »Ein zentraler Ankerpunkt linker Politik für eine bessere Zukunft muss darin bestehen, über demokratischen Sozialismus in politisch liberal-demokratisch und ökonomisch kapitalistisch verfassten Gesellschaften grundsätzlich nachzudenken«, so Kahrs und Lederer. »Soziale Ungleichheit ist als gesellschaftspolitisches Problem in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt und droht zur Gefahr für die Stabilität der hiesigen demokratischen Verhältnisse zu werden. Wir sehen darin einen Resonanzboden für demokratisch-sozialistische Deutungen gesellschaftlicher Entwicklungen durch eine linke Partei.«

Dabei spielen die beiden Autoren auf die oft hohe Zustimmung zu sozialistischen Werten in Umfragen an, die Kahrs und Lederer aber »in ihrer Unbestimmtheit kaum als Bedürfnis nach einem bestimmten Gesellschaftssystem« interpretieren wollen, »wohl aber nach einem wirkmächtigen Regelwerk für das gesellschaftliche Zusammenleben und das staatliche Handeln verstanden werden: Gleichheit und Fairness, Selbstbestimmung und Demokratie, Kooperation und Solidarität. Diese Werte bilden den ›Glutkern‹ des Engagements in einer linken Partei und zugleich ihres Platzes in der Gesellschaft.«

Beim Reden über »einen neuen, demokratischen Sozialismus« gehe es daher »zunächst um die Richtung, in die linke Politik strebt, um das Versprechen, das sie attraktiv macht, und um eine klare Haltung, aus der heraus nach Lösungen für die unterschiedlichsten Probleme gesucht wird.« Hier pochen Kahrs und Lederer darauf, dass nicht »Gerechtigkeit« das ist, was den wesentlichen Unterschied zwischen linker und rechter Politik ausmacht. Denn was gerecht ist, lasse sich auch aus verschiedenen Ordnungsprinzipien ableiten, die im Ergebnis nicht auf dasselbe politisch hinauslaufen – was »gerecht« nach dem Leistungsprinzip und was »gerecht« nach dem Bedarfsprinzip ist, sind zwei ganz unterschiedliche Dinge.

Kahrs und Lederer halten dagegen »Gleichheit« für »die zentrale Scheidelinie. Linke Politik folgt einer horizontalen, egalitären Vision von Gesellschaft, rechte Politik dagegen einer vertikalen, hierarchischen.« Die Gretchenfrage laute: »Gleichheit oder Ungleichheit der Rechte und Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, unabhängig oder abhängig von Stand, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Einkommen«. Wer diesem »Gleichheitsaxiom folgt, sieht die Grenzen der eigenen Freiheit in der Freiheit des/der Anderen, erkennt ihm*ihr das gleiche Recht auf Sicherheit und Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen, auf Emanzipation und Persönlichkeitsbildung zu.« 

Zugleich sei Abwesenheit von Mangel »eng verbunden mit Selbstbestimmung und Demokratie, denn sie bedeutet auch Abwesenheit von existenzieller Abhängigkeit und damit die Freiheit, zu einem vertretbaren Preis ›Nein‹ sagen zu können.« Hier verweisen Kahrs und Lederer auf Arbeits- und Tarifrecht, betriebliche Mitbestimmung und sozialstaatliche Sicherheiten als »wesentliche Garanten dieser Freiheit«. Um sich aber als Gleiche und Gleicher an allen demokratischen Entscheidungen beteiligen zu können, sei noch mehr notwendig: »freie Zeit, Information, Respekt als ›gleiche*r Ungleiche*r‹, die*der anders spricht, sich anders ernährt, andere Gewohnheiten hat, deren*dessen Beteiligung aber unverzichtbar ist, wenn über Dinge entschieden wird, die ihre*seine eigenen Lebensbedingungen betreffen. Die Frage, die linke Politik zu stellen hat, lautet daher, ob alles getan worden ist, damit gleicher Zugang, gleiches Gehör, gleiche Teilhabe möglich sind.« Dabei geht es ums Ganze, denn dem Kapitalismus ist »eine Tendenz zum Autoritarismus eigen«, weshalb das »unverstellte Eintreten für demokratische Regelwerke und die Verteidigung liberal-demokratischer Errungenschaften gegen autoritäre Tendenzen ist deshalb eine entscheidende Säule sozialistischer Politik, die sich aus dem Prinzip der Gleichheit ergibt«.

Die schlussfolgernde Empfehlung von Kahrs und Lederer lautet: »Gleichheit universal zu denken, Konzepte auf universelle Umsetzbarkeit zu prüfen und im politischen Handeln transnationale Zusammenarbeit anzustreben, die Regeln für demokratisch eingebundene Selbstbestimmung zu verteidigen und auszubauen und die notwendigen Gemeinschaftseinrichtungen einer Gesellschaft jenseits des Mangels zu stärken – das müssen die in allen Politikfeldern erkennbaren Säulen und Grundhaltungen sozialistischer Politik in Deutschland sein.«

In Teil I dieser Miniserie geht es um César Rendueles, der beschreibt, wie wir mit Gleichheit als kollektivem Ziel aus der elitären Dystopie ausbrechen können. Teil III befasst sich mit Thomas Pikettys gar nicht so kurzer »Kurzen Geschichte der Gleichheit«, aus der jede Bewegung hin zu mehr Gleichheit lernen sollte, die an der Möglichkeit eines demokratischen und föderalen, dezentralisierten und partizipativen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus festhält. 

In der Reihe »Aufgelesen« blicken wir in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf aktuelle Studien und Bücher. Zusammenstellung: aus Susannes Büros.