Aufgelesen: Drei Mal Gleichheit, Teil I
Chancengleichheit und Empörung über Armut? Das ist für die gesellschaftliche Linke nicht genug, meint. César Rendueles und beschreibt, wie wir mit Gleichheit als kollektivem Ziel aus der elitären Dystopie ausbrechen können. Mehr noch: Der spanische Soziologe sieht in einem linken Projekt der universellen Gleichheit »die einzige realistische Option, um die größte Probe zu bestehen, mit der die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren konfrontiert war.«
Man kann nicht behaupten, es würde an Analysen der unübersehbaren materiellen Ungleichheit fehlen, oft bleiben die Darstellungen aber etwas abstrakt: soundsoviel Prozent der Superreichen haben sich soundsoviel Prozent des gesellschaftlichen Reichtums angeeignet. Aber wie viel ist eine Milliarde?
In seinem neuen »egalitaristischen Pamphlet« rechnet der spanische Soziologe César Rendueles den verteilungspolitischen Zustand der Welt an einem verständlichen Beispiel so vor: Um auf eine Millionen Euro zu kommen, müsste jemand, der einen Euro pro Sekunde verdient, zwölf Tage arbeiten. Aber »um Milliardär zu werden, würde diese Person 30 Jahre benötigen«. Um an die 100 Milliarden US-Dollar heranzukommen, die Jeff Bezos 2018 als sein Vermögen betrachtete, bräuchte unsere theoretische Figur bei einem Verdienst von einem Dollar pro Sekunde schon mehr als 3.000 Jahre. Und geht man, was ja realistischer wäre, vom mittleren spanischen Einkommen von 2017 aus, das betrug damals 1.200 Euro, hätte eine Person, die ihr Gehalt vollständig zurücklegen könnte, erst in fünf Millionen Jahren so viel Geld wie Bezos.
In César Rendueles’ von Raul Zelik übersetzen Buch »Gegen Chancengleichheit« geht es freilich nicht darum, so »reich« zu werden wir irgendein Milliardär, sondern um eine scharfzüngige Analyse einer Welt, in der Ungleichheit in einem enormen Ausmaß herrscht. »Die Ungleichheit ist für eine erschütternde Zahl beschädigter Lebensläufe und kollektiver Dilemmata verantwortlich. Gleichheit ist nicht in erster Linie die Voraussetzung für irgendetwas anderes – für persönlichen Erfolg, Rechtsstaatlichkeit etc. –, sondern ein Ziel an sich, weil sie eine der Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens darstellt. Die Gleichheit gehört zu den biologischen und kulturellen Fundamenten der menschlichen Soziabilität, unseres Vermögens und Bedürfnisses, zusammen zu leben«, schreibt Rendueles. »Zudem zeigt die historische Erfahrung, dass wachsende Ungleichheit mit gesellschaftlichem Zerfall, einem Verlust an Solidarität und der Zunahme kollektiven Misstrauens verknüpft ist. Die Ungleichheit zerstört die sozialen Bindungen, die für jedes Projekt eines guten Lebens unverzichtbar sind.«
Deshalb stellt Rendueles die soziale, kulturelle und ethische Bedeutung der Gleichheit ins Zentrum. Sein Buch ist gar nicht so sehr »Pamphlet«, sondern viel eher eine engagierte und mit vielen Erfahrungen aus linken spanischen Bewegungen gespeiste Erinnerung an ein Anliegen, das in der gesellschaftlichen Linken einmal breiteren Raum einnahm: »echte Gleichheit als ein kollektives Ziel, das fest zur Anatomie der Demokratie gehört«.
Aber Halt, streben die Linken nicht alle nach Gleichheit? Laut Rendueles »nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projekts sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut«.
Letztere sei meist folgenlos, so der in Madrid lehrende Soziologe. Und beim Thema Chancengleichheit gehen bei ihm so richtig die Alarmlampen an: Es handele sich dabei »um eine meritokratische Perversion des Egalitarismus«, um etwas, das sich darauf beschränkt, »Zugangshürden aus dem Weg zu räumen, die den Mechanismus zur gerechten Belohnung individueller Leistungen verzerren könnten. Sozusagen eine gesellschaftliche Dopingkontrolle, bei der überwacht wird, dass beim gesellschaftsweiten Wettbewerb niemand betrügt.« Ist es das, was wir für nötig oder ausreichend erachten?
Rendueles bringt seine Kritik am Leistungsprinzips in einer spitzen Polemik zum Ausdruck: Die Anhängerschaft dieser »Dopingkontrolle« glaube, »die von ihnen angestrebten Privilegien seien völlig legitim, verdient, vernünftig und eine Quelle der Distinktion. Alle Menschen sollen die gleiche Chance haben, sich in einen Idioten zu verwandeln, der andere herumkommandieren, viel Geld besitzen und dekadenten Luxus genießen will. Eines Tages, so verspricht man uns, wird die entfernte Möglichkeit, ein Nummernkonto in der Schweiz zu besitzen, Untergebene zu schikanieren und lächerlich gekleidet am Steuer eines von einem deutschen Konzern produzierten Monuments der Blödheit zu sitzen, demokratisch verteilt sein.«
In seinem Rundumblick geht Rendueles der Frage der Gleichheit in unserem alltäglichen Leben, in der Politik, in der Demokratie nach. Das ist natürlich von seinem spanischen Erfahrungshorizont geprägt, und doch bleibt es erhellend. Es geht um Deliberation, also Verfahren der kollektiven Selbstverständigung von Gemeinschaften, um basisdemokratische Projekte, um das Bildungswesen und die Rolle kollektiver Praktiken des Ringens um Gleichheit in der Arbeitswelt, um Grundeinkommen und Beschäftigungsgarantie – und natürlich um Geschlechtergleichheit. Auf dem Weg dorthin sind wir vielleicht am weitesten voran gekommen, gerade auch wenn es nicht so scheint. Aber: »Je mehr Gleichheit wir erreichen, desto mehr und bessere Gleichheit wollen wir«, schreibt Rendueles, und lenkt damit zugleich den Blick darauf, dass es bei Gleichheit nicht so sehr »Zielpunkt der Reise, sondern der Weg selbst« ist. Eine große Rolle nehmen bei ihm auch das Kollektive, das tätige Gemeinsame, die mit anderen gemachte und verarbeitete Erfahrung und die Beziehungen ein.
»Auch wenn manche Linke dies unterstellen, ist materielle Gleichheit keineswegs die Lösung aller Probleme«, so Rendueles, denn es würden sich aus der Gleichheit »eine Reihe ganz eigener Probleme« ergeben, »was Gruppendruck, die Anerkennung von Leistung, persönliche Selbstbestimmung und die Natur sozialer Bindungen in komplexen Gesellschaften angeht«. Doch das spricht keineswegs für die »Billigung der Ungleichheit«, wie sie überall anzutreffen ist.
Und auch die Tatsache, dass Gleichheit für sich genommen »die sozial-ökologische Krise nicht stoppen« wird, sieht Rendueles darin »die einzige realistische Option, um die größte Probe zu bestehen, mit der die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren konfrontiert war. Das egalitäre Programm bestand nie darin, allen das Gleiche zu geben, sondern jedem das, was er oder sie benötigt. Zum ersten Mal in der Geschichte steht bei diesem Projekt – mit Ausnahme einer Handvoll Superreicher, die sich in abgeschotteten Luxusgefängnissen verschanzen können – das Leben der gesamten Menschheit auf dem Spiel.«
César Rendueles: Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet. Übersetzt von Raul Zelik, suhrkamp, Berlin 2022, 329 Seiten, 20 Euro. Mehr Infos hier.
In der Reihe »Aufgelesen« blicken wir in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf aktuelle Studien und Bücher. Zusammenstellung: aus Susannes Büros. In Teil II dieser Folge pochen Horst Kahrs und Klaus Lederer darauf, dass nicht Gerechtigkeit, sondern Gleichheit die zentrale Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik ist und skizzieren, was das für sozialistische Politik bedeutet. Teil III befasst sich mit Thomas Pikettys gar nicht so kurzer »Kurzen Geschichte der Gleichheit«, aus der jede Bewegung hin zu mehr Gleichheit lernen sollte, die an der Möglichkeit eines demokratischen und föderalen, dezentralisierten und partizipativen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus festhält.