»Der Ausnahmezustand dauert bereits Jahre«

Der Ratschlag Kinderarmut ruft zur Solidarität mit armutsbetroffenen Kindern und ihren Familien auf und fordert rasch eine Kindergrundsicherung, die ihren Namen auch verdient. Bisher plant die Ampel eine Reform, bei der erst 2025 die ersten Auszahlungen kommen würden. Angesichts der seit langem enormen und weiter steigenden Belastungen für Familien mit geringen Einkommen ist das zu spät.

»Der Ausnahmezustand dauert bereits mehr als zweieinhalb Jahre an. Für ein fünfjähriges Kind ist das die Hälfte seiner Lebenszeit.« Mit diesen eindringlichen Worten ruft der Ratschlag Kinderarmut 2022 zur Solidarität mit armutsbetroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien auf. Mehr noch: Das Bündnis von 56 Verbänden, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen fordert Bund, Länder und Kommunen dazu auf, endlich Kinderarmut entschieden zu bekämpfen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. 

Man dürfe die seit Jahren beklagten und zuletzt deutlich verschärften Armutslagen von jungen Menschen nicht länger hinnehmen. Es müsse »endlich das nötige Geld in die Hand« genommen werden, »um ihnen ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. Dabei müssen soziale Infrastruktur und monetäre Leistungen ineinandergreifen.« Die Erklärung haben unter anderem das Kinderhilfswerk, die Arbeiterwohlfahrt, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Nationale Armutskonferenz und Sozialverbände unterzeichnet.

Der Ausnahmezustand, von dem das Bündnis spricht, ging anfänglich mit der Corona-bedingten Schließung von Einrichtungen und Unterstützungsstrukturen wie Kitas, Schulen, Jugendclubs und Familienzentren. Familien seien »lange Zeit und in wiederkehrendem Maße auf sich allein gestellt und zum Teil hohen Belastungen ausgesetzt« gewesen. Dann fingen auch noch die Lebenshaltungskosten an zu steigen, erst langsam und stetig, später sind sie auch wegen der stark steigenden Energiepreise förmlich »explodiert«.

Wie sich das auswirkt, zeigen auch neue Zahlen des Inflationsmonitors des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Demnach belastet die aktuell für alle hohe Inflation einkommensschwache Familien noch einmal viel stärker. Für sie betrug im Oktober die Inflationsbelastung 11,8 Prozent – bei Alleinlebenden mit hohem Einkommen waren es dagegen 8,4 Prozent. 

Der Grund: die »weiterhin größten Preistreiber«, also Haushaltsenergie und Lebensmittel, machten »bei den Einkäufen von Haushalten mit niedrigen bis mittleren Einkommen einen größeren Anteil ausmachen als bei wohlhabenden«, so das Institut. »Die Alltagsgüter, die sie vor allem kaufen, sind kaum zu ersetzen. Zudem besitzen diese Haushalte kaum Spielräume, ihr Konsumniveau durch Rückgriff auf Erspartes aufrecht zu erhalten.« Auch Alleinerziehende und Familien mit jeweils mittleren Einkommen hatten etwas überdurchschnittliche Teuerungsraten zu tragen. 

»Dadurch geraten Familien mit geringem Einkommen an oder sogar über die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten, viele sind finanziell schlicht am Ende«, heißt es beim Kinderhilfswerk. Jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ist ein Kind, obwohl der Anteil von Kindern an der Gesamtbevölkerung in Deutschland nur bei rund 16 Prozent liegt. Damit sind Kinder und Jugendliche mit ihren Familien in besonderem Maße von Armut betroffen. Die Forderung des Bündnisses: endlich eine Kindergrundsicherung einzuführen, die ihren Namen verdient. Bis dahin solle es, wie auch die LINKE fordert, deutliche Aufschläge auf die bisherigen Auszahlungsbeträge der Sozialleistungen geben. »Förderung armer Familien und ihrer Kinder sowie unbürokratische Zugänge zu armutsvermeidenden Leistungen gehören auf der Prioritätenliste ganz nach oben.« 

Die Kritik an der Kinderarmut ist keineswegs neu. »Die bestehenden sozialen Sicherungssysteme reichen nicht aus, um Kinderarmut effektiv zu verhindern«, beklagte bereits vor einem Jahr der Paritätische Wohlfahrtsverband und belegte dies mit einer Studie, in der Kinderarmut in Deutschland über einen Zehn-Jahres-Zeitraum untersucht wurde. »Besonders hart und häufig treffe es unverändert Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Insgesamt seien die Leistungen der Grundsicherung deutlich zu niedrig bemessen und ergänzende familienpolitische Maßnahmen nicht ausreichend, um Familien und Kinder effektiv vor Armut zu schützen«, so seinerzeit der Paritätische Wohlfahrtsverband.

Bisher plant die Bundesregierung, der Gesetzentwurf für eine neue Kindergrundsicherung solle »bis Ende 2023« stehen; »die ersten Auszahlungen der Kindergrundsicherung, so der Plan, wird es dann 2025 geben«, so die zuständige Ministerin Lisa Paus. Das ist mit Blick auf die aktuellen Belastungen für Familien und Kinder sehr spät. Auch die geplante Erhöhung des Kindergeldes ab dem kommenden Jahr um 31 Euro im Monat könne die enormen Steigerungen bei Lebenshaltungskosten von Familien nicht ausgleichen, kritisiert zum Beispiel die Sprecherin für Familie der Linksfraktion im Thüringer Landtag, Cordula Eger. Laut der Linksfraktion im Bundestag sollte das Kindergeld für alle Kinder sofort auf 328 Euro steigen. Für die ärmsten Kinder brauche es eine armutsfeste Kindergrundsicherung bis 630 Euro. Und zwar so schnell wie möglich. (aus Susannes Büros)