Aufgelesen: Der hohe Preis der Selbstgefälligkeit

Vier von fünf Bürgerinnen und Bürgern sind laut aktueller Umfrage für den schnelleren Ausbau von Windkraft. Wie dringend nicht nur eine rasche Energiewende, sondern radikales ökologisches Umsteuern insgesamt ist, machen auch neue Veröffentlichungen deutlich. Die Klimakrise beschleunigt sich, Kipppunkte werden erreicht – und dann? Ein Blick in neue Veröffentlichungen.

Viel Aufmerksamkeit hat dieser Tage ein Beitrag im britischen »Guardian« gefunden. Robin McKie hat für die Sonntagsausgabe »Observer« Bill McGuires neues Buch »Hothouse Earth« gelesen, einem führender britischen Wissenschaftler. Hitzewellen wie aktuell seien erst der Anfang, warnt der emeritierte Professor für geophysikalische und Klimagefahren am University College London – und Rezensent McKie kommt nach der Lektüre zu einer drastischen Bilanz: »Wie er in seiner kompromisslosen Darstellung der kommenden Klimakatastrophe deutlich macht, haben wir – viel zu lange – die ausdrücklichen Warnungen ignoriert, dass die steigenden Kohlenstoffemissionen die Erde gefährlich aufheizen. Jetzt werden wir den Preis für unsere Selbstgefälligkeit in Form von Stürmen, Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen zahlen, die die derzeitigen Extreme bei weitem übertreffen werden. Der entscheidende Punkt ist, dass wir keine Chance mehr haben, einen gefährlichen, allumfassenden Klimazusammenbruch zu vermeiden. Wir haben den Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gibt, und müssen mit einer Zukunft rechnen, in der tödliche Hitzewellen und Temperaturen von über 50 Grad Celsius in den Tropen an der Tagesordnung sind, in der die Sommer in den gemäßigten Breiten ausnahmslos brütend heiß sein werden und in der unsere Ozeane zwangsläufig warm und sauer werden.«

Ist das eine überzogene Meinung? McKie schreibt, dass Bill McGuire hier »eine extreme Position« einnehme, viele andere Klimaexpertinnen und -experten seien »der Meinung, dass wir noch Zeit haben, wenn auch nicht viel, um die Treibhausgasemissionen spürbar zu reduzieren. Ein schnelles Streben nach einem Netto-Nullpunkt und das Aufhalten der globalen Erwärmung sei immer noch in Reichweite, sagen sie.«

Doch Klimaforscher McGuire schreibt, er »kenne viele Leute, die in der Klimawissenschaft tätig sind, die in der Öffentlichkeit das eine sagen, aber im Privaten etwas ganz anderes. Im Vertrauen sind sie alle viel ängstlicher über die Zukunft, die uns bevorsteht, aber sie wollen das in der Öffentlichkeit nicht zugeben. Ich nenne das Klimabeschwichtigung, und ich glaube, dass es die Dinge nur noch schlimmer macht. Die Welt muss wissen, wie schlimm es werden wird, bevor wir hoffen können, die Krise in Angriff zu nehmen.«

McGuires Pessimismus wird von Zahlen untermauert. Wollte man das Ziel erreichen, den Anstieg der globalen Temperaturen auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, müssten die weltweiten Kohlenstoffemissionen bis 2030 um 45 Prozent reduziert werden. Aber: Derzeit sieht es so aus, als ob die Emissionen bis zu diesem Zeitpunkt um fast 14 Prozent steigen. Mit enormen Folgen, »nach den hoffnungsvollsten Schätzungen« der auf der Klimakonferenz Cop26 in Glasgow gemachten Zusagen zur Emissionsreduzierung »die Welt auf dem besten Weg ist, sich um 2,4 bis 3 Grad zu erwärmen«.

Was das bedeuten kann, hat der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf, weltweit anerkannter Experte für die Physik der Ozeane und Erdsystemanalyse, in knapper Form in einem gerade neu erschienen Buch skizziert: »3 Grad mehr«. Darin wird ein »Blick in die drohende Heißzeit« geworfen – und Rahmstorf macht klar, dass wir in Deutschland »inzwischen schon bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt« sind. Er beschreibt, was das jetzt schon heißt und was auf die Menschen, die Natur, die Erde zukommt, wenn das Ruder nicht schnell und radikal herumgerissen wird.

Ein Beispiel: die Hitze: »Wo die Menschen früher in Deutschland unter einem Hitzerekord von 39Grad Celsius stöhnten, dürften es dann eher 45 Grad sein. Oder sogar mehr, wenn die Böden ausgetrocknet sind, was die Hitze noch verstärken kann. Der Sommer 2003, der damals als ›Jahrhundertsommer‹ galt, hat in Europa rund 70.000 Hitzetote gefordert. Der Gipfel der Übersterblichkeit war in Frankreich (wo der Schwerpunkt der Hitze lag) deutlich höher als die Ausschläge während der Covid-19-Pandemie. Die Stadt Paris musste im August 2003 gekühlte Zelte für die vielen Toten aufstellen, weil die Leichenhäuser überfüllt waren.« 

Rahmstorf erläutert anschaulich wissenschaftliche Begriffe wie Verdunstungskühlung oder Kühlgrenztemperatur und warnt, was eine globale Erwärmung um 3 Grad, die auf vielen Landgebieten 6 oder mehr Grad entspricht, bedeuten kann: Die während Hitzewellen tödlich heißen Gebiete würden sich »massiv ausweiten, den Aufenthalt im Freien zunehmend gefährlich machen und dadurch zum Beispiel die Feldarbeit in der Landwirtschaft beeinträchtigen«. So skizziert er ein Panorama der Folgen einer Klimakrise, die keine dystopische Zukunftsvision mehr ist, sondern längst wirken – mit sozialen, ökonomischen, politischen Konsequenzen. Von Extremniederschlägen und Dürren über Tropische Wirbelstürme, die Auswirkungen der Erderwärmung auf Meeresspiegel und Eisschilde und wie Kipppunkte des Klimasystems überschritten werden. Dann verstärken sich Effekte und werden Entwicklungen unumkehrbar. 

»Das klingt finster und dystopisch und es fällt mir schwer, das zu schreiben, während ich an meine Kinder denke«, so Rahmstorf in seinem nur 18 Seiten umfassenden Beitrag zu dem Buch, den man unbedingt gelesen haben sollte: »Aber es ist wahrscheinlich. Das meiste wurde schon lange vorhergesagt und ist in für die Betroffenen durchaus nicht harmlosen Anfängen längst zu beobachten. Man muss nur nüchtern der Tatsache ins Auge blicken, dass die geschilderten Verhältnisse in einer 3-Grad-Welt höchstwahrscheinlich nicht ›nur‹ drei Mal schlimmer als in einer 1-Grad- Welt sein werden, wofür die nicht linearen Effekte und die Kipppunkte sorgen werden. Ich bin nicht sicher, ob das halbwegs zivilisierte Zusammenleben der Menschen, wie wir es kennen, unter diesen Bedingungen noch Bestand haben wird. Ich persönlich halte eine 3-Grad-Welt für eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation.«

Es gebe »genügend Gründe zu vermuten, dass der Klimawandel zu einer globalen Katastrophe führen könnte«, schreiben auch Klimaforscherinnen und -forscher um Luke Kemp von der Cambridge-Universität im Fachjournal »PNAS«. Selbst bei einer nur mäßigen Erwärmung könnte die Welt in ein »Climate Endgame« rutschen, ein »Endspiel ums Klima«. Möglich sei, dass Milliarden Menschen dann in praktisch unbewohnbaren Weltgegenden leben, dort fliehen müssen, Staaten Kriege um die Reste von Klimabudgets führen und Gesellschaftssysteme zusammenbrechen und so weiter.

Die Forscherinnen und Forscher plädieren daher für »ein umsichtiges Risikomanagement«, und ein solches erfordere »die Berücksichtigung von Szenarien, die vom schlimmen bis zum schlimmsten Fall reichen. Im Falle des Klimawandels sind solche potenziellen Zukunftsszenarien jedoch nur unzureichend bekannt.« Das Verständnis extremer Risiken sei »wichtig für eine solide Entscheidungsfindung, von der Vorbereitung bis zur Erwägung von Notfallmaßnahmen. Dazu müssen nicht nur Szenarien mit höheren Temperaturen untersucht werden, sondern auch das Potenzial der Auswirkungen des Klimawandels, zu systemischen Risiken und anderen Kaskaden beizutragen.« 

Deshalb wird eine »Climate Endgame«-Forschungsagenda vorgeschlagen, die vier Hauptfragen umfasse. »Erstens: Wie groß ist das Potenzial des Klimawandels, ein Massenaussterben auszulösen? Zweitens: Welches sind die Mechanismen, die zu menschlicher Massensterblichkeit und -morbidität führen könnten? Drittens: Wie anfällig sind die menschlichen Gesellschaften für klimabedingte Risikokaskaden, zum Beispiel durch Konflikte, politische Instabilität und systemische Finanzrisiken? Viertens: Wie können diese vielfältigen Erkenntnisse – zusammen mit anderen globalen Gefahren – sinnvoll zu einer ›integrierten Katastrophenbewertung‹ zusammengeführt werden?«

In der »Süddeutschen Zeitung« hat Benjamin von Brackel die Studie vorgestellt, und mit der Frage ergänzt, wie hilfreich solche pessimistischen Szenarien seien. Darüber gehen die Positionen der Wissenschaft auseinander. Die öffentliche Debatte solle sich auf die wahrscheinlichen Risiken konzentrieren, meint etwa der Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann, der vor Überforderung der Öffentlichkeit warnt. Zitiert wird auch Friedrich Schleussner vom Berliner Institut Climate Analytics: »Das zentrale Problem der Klimaschutzbemühungen ist nicht mehr, dass nichts passiert, sondern, dass es zu langsam geht. Das ist der Fokus, auf den wir uns mit allen wissenschaftlichen, kommunikativen und politischen Mitteln konzentrieren sollten.« Dass laut aktueller Umfrage vier von fünf Bürgerinnen und Bürgern hierzulande für den schnelleren Ausbau von Windkraft sind, scheint da ein positives Zeichen. Immer mehr Menschen erkennen, dass die Zeit knapp wird.

(In der Reihe »Aufgelesen« blicken wir in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf aktuelle Studien. Zusammenstellung: aus Susannes Büros)