Besser gemacht statt nur nachgebaut

Was sind »gleichwertige Lebensverhältnisse«? »Gleiche Chancen für alle – egal wo in Deutschland«, so hat es einmal die Tagesschau formuliert. Es geht also um Daseinsvorsorge und Infrastrukturen, die nicht überall in dem Umfang zur Verfügung stehen, der für ein gutes Leben und gesellschaftliche Teilhabe nötig wäre. Probleme gibt es nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch in vielen großstädtischen Vierteln. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hat einen wichtigen Platz im Grundgesetz. Linke Politik heißt, diesen verfassungsrechtlichen Anspruch mit Leben auszufüllen.

Was also wollen wir? Wenn heute Politikerinnen und Politiker für »gleichwertige Lebensverhältnisse« werben, zielt das zu oft auf die Angleichung an ein anderswo schon bestehendes, als »ausreichend« interpretiertes Niveau. Es geht dann also um »Nachbau«, weniger auf eigenständige, alternative Entwicklungsrichtungen. Gerade die häufig zu hörende Erzählung über den Osten, der in allen möglichen Belangen nur hinterhertrottet, verstärkt so eher die Erfahrung mangelnder Anerkennung. 

Die hat es zweifellos gegeben, sie hat Spuren hinterlassen, wir sehen es in den sozialen und ökonomischen Statistiken: vielfach sind die Kennziffern in ostdeutschen Ländern schlechter. Aber mehr als 30 Jahre nach der Wende sollen neue Perspektiven gestärkt werden – lasst und über »Ankommen« und »Aufholen« hinaus den Horizont erweitern. 

Dazu ist im Sinne von »der andere Osten« schon viel notiert worden; Stichworte: Eigensinn, Erfahrungsvorsprung, progressive Tradition des Aufbruchs von 1989 usw. Mit einer weitergehenden linken Auffassung des Begriffs »gleichwertige Lebensverhältnisse« kann man dem auch im Westen wachsenden Anspruch nach »Gleichwertigkeit« in progressiver Weise gerecht werden und darüber hinaus eine bisher eher auf »Reparatur« gedrehte Debatte mit einem utopischen Überschuss versehen und so nach vorn richten. 

Anders formuliert: Was ist das linke, sozialistische an »unserer Politik« für den Osten, für »gleichwertige Lebensverhältnisse«? Was zielt dabei über »einholen« hinaus, wo fängt das »überholen« an? Für die LINKE kommt es darauf an, eine eigene Idee von »gleichwertigen Lebensverhältnissen« zu formulieren, sozusagen den »Schwung« aufzunehmen, der in dem universellen Charakter des Anspruchs liegt, ihn aber sogleich in eine eigene, linke Richtung fortzuschreiben. 

Dazu gibt es linke Anknüpfungspunkte, die hier nur kurz angerissen werden sollen: etwa Skizzen über einen übergeordneten Rahmen linker Politik als »Infrastruktursozialismus«, »gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie«, »demokratische Resilienz« oder » Fundamentalökonomie«, in denen die materiellen Fortschritte (man könnte sagen: bei der Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse«) nicht bloß unmittelbar praktische Funktionen haben – es wird nicht nur die Infrastruktur (wieder) besser, es gibt nicht nur (wieder) mehr Teilhabe-Angebote und damit Chancen usw. Es wohnt dem Ganzen zudem eine Potenz progressiver kollektiver Praxis inne, bei der die Gesellschaft als Gesellschaft gleicher Bürger*innen aufgefasst wird, eine, in der neue Formen des Gemeinsamen auch die einzelwirtschaftliche Produktivität steigern, wobei dies eben nicht im Rendite-Interesse geschieht, sondern »als humaner Selbstzweck«. 

Damit rückt dann das große Thema »Demokratie« mit ins Zentrum, eingeschlossen eine Idee von Gesellschaft, in der linke Politik nicht nur für volle Teller sorgt (bleibt richtig), sondern sich stärker als bisher auch um die »demokratischen und freiheitlichen Bedürfnisse« kümmert, dabei berücksichtigend, dass diese Voraussetzungen brauchen – eben auch materielle. 

Das Foundational Economy Collective hat in »Die Ökonomie des Alltagslebens« (Suhrkamp, 2019) eine »Rückbesinnung auf eine gemeinnützige Fundamentalökonomie« als »Ausgangspunkt« zur Erneuerung einer demokratischen Linken vorgeschlagen. Es geht um eine neue, progressive Infrastrukturpolitik, um alles, was unser alltägliches Leben und produktives Wirtschaften erst ermöglicht: Stromnetze, Wasserleitungen, Schulen, Krankenhäuser, Wohlfahrt, Kultur und so weiter. 

Wie die nun schon länger laufende Debatte über das Verhältnis von Staat und Markt zeigt, dürfen diese »fundamentalökonomischen« Anker des Alltags nicht profitorientierter Konkurrenz überlassen werden. Linke Strukturreformen, die über eine bloße Modifikation bestehender Regeln hinausgehen, sollten auf den großen gesellschaftlichen Bedarfsfeldern (wieder) einer alternativen, den Lebensbedürfnissen entsprechenden Logik unterworfen werden: öffentlicher, demokratischer Kontrolle.

So aufgefasst lässt sich über eine linke Erzählung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« nicht nur an die laufenden Debatten über Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, die damit verbundenen Fragen der Umverteilung gesellschaftlich produzierten Reichtums, der Demokratisierung von Lohnarbeit und Wirtschaft usw. anschließen. Es eröffnet auch Möglichkeiten, einen Bereich von Politik »von unten«, aus der Zivilgesellschaft und den Bewegungen zu denken, der bisher eher verengt als passive Erwartung an die Institutionen formuliert ist: Wann schafft die Bundesregierung »gleichwertige Lebensverhältnisse«? 

Lasst uns selbst aktiv werden. Es besteht die Chance, eine Idee von »selbstbestimmtem, demokratischem Leben vor Ort« zu popularisieren, die andere Elemente linker Politik in einem übergeordneten Rahmen verbindet: die Forderungen nach ausreichender materieller Teilhabe, nach einem sozialen Fundament, nach Chancengleichheit, Umverteilung, Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, nach guter Arbeit und Freiheitsansprüchen etc.

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