Drei lange Linien

Klimaschutz, demographische Herausforderung, Ausbau und Stärkung des öffentlichen Sektors. Wir werden einiges ändern müssen, aber wir werden dabei viel gewinnen. Ein Aufbruch, wie ich ihn mir vorstelle und wie wir ihn in Thüringen ja längst begonnen haben, wird das Große im Blick behalten ohne das Kleine zu übersehen.

Von Susanne Hennig-Wellsow

Wenn ich in den vergangenen Monaten im Wahlkreis unterwegs war, hörte ich viel über die Sorgen von Menschen: Gestiegene Preise, Unsicherheit. Die Leute fragen sich, wie es mit dem eigenen Beruf oder der Altersversorgung weitergeht. 

Was ich aber genauso erlebe, dass es diesen Menschen keineswegs nur um sich selbst geht. Ob Klimakrise oder Ungleichheit, ob die Schule im Dorf oder die Firma  in der Nachbarschaft – was die Leute umtreibt, ist auch das Gemeinsame und das große Ganze. 

Das drückt sich immer wieder auch in Umfragen aus, wo sich Mehrheiten für gute Klimapolitik, für Umverteilung, für solidarische Kooperation zeigen. Deshalb ärgert es mich besonders, wenn die Profiteure der Angstmacherei, die noch die sinnvollste Idee als »Bevormundung« abtun, sich plötzlich als soziale Anwälte hinstellen. 

Jahrelang wurden soziale und ökologische Verbesserungen blockiert. Und nun verstecken sich Gestern-Parteien wie die CDU und die FDP hinter »den kleinen Leuten«, denen sie immer alles zugemutet haben, wenn es um Reichtumsschutz und Profitförderung ging. 

Ich bin sicher, die große Mehrheit ist viel weiter als diese Politbremsen – im Denken daran, wie nötig jetzt Umsteuern ist; im Wissen darum, dass dabei sozialer Ausgleich wichtig ist. Aber auch in der Neugier darauf, was alles erreicht werden kann an Verbesserungen. 

Wir stecken mitten drin in einer der wichtigsten Entscheidungssituationen dieser Republik seit langem. In den nächsten Jahren werden die Weichen dafür gestellt, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Da passiert viel auf Bundesebene. Da geht es auch darum, wie sich das auf Thüringen auswirkt. Da wird mitentschieden, welche sozialen und ökologischen Möglichkeiten unsere linksgeführte Landesregierung hat. 

Es geht darum, wie künftig in den Städten und Gemeinden an Zukunft gearbeitet werden kann. An einer guten Zukunft. Wenn wir uns dafür entscheiden. 

Gelingt der Einstieg ins radikale Umsteuern auf den Feldern von Klimapolitik und ökonomischem Strukturwandel? Gehen wir neue Wege, um notwendige Investitionen zu finanzieren und Ungleichheit zu verringern? Oder setzen sich jene durch, denen es darum geht, hohe Vermögen zu schützen, Sozialleistungen infrage zu stellen und die Interessen von Unternehmen vor die der Gesellschaft stellen? Fährt unser Zug zurück in Richtung Marktgläubigkeit und Konkurrenzdenken? Oder schaffen wir es, Mehrheiten für den Ausbau des Öffentlichen, für mehr Solidarität und Demokratie zu mobilisieren?

All diese Fragen sind nicht neu, wir reden seit Jahren darüber, und ja: Auch wir LINKE haben nicht immer den richtigen Ton getroffen. Aber, soviel Selbstbewusstsein dürfen wir haben, wir haben in Thüringen Verantwortung unter schwierigen Bedingungen übernommen. Mag sein, dass man sich im Handgemenge der Politik auch einmal einen Kratzer holt; aber das ist immer noch besser als am Spielfeldrand herumzumeckern und ein blütenweißes Trikot zu behalten.

Wenn wir einmal kurz zurückdenken an die vergangenen zwei, drei Jahre – dann sehen wir einige lange Linien, die auch in Zukunft das politische Feld durchziehen werden.

In der Corona-Phase ging es immer auch um Zustand und personelle Ausstattung sozialer Infrastruktur. Um den Stellenwert von Gesundheit, Pflege, Carearbeit sowie anderer »systemrelevanter« Tätigkeiten. Um Einkommen, um die Frage, wer die Lasten der Gesellschaft trägt. Und um ein immer wieder auszubalancierendes Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit. 

In der Energiepreiskrise waren und sind wir mit ganz ähnlichen grundlegenden Fragen konfrontiert: Auch jetzt wieder geht es darum, wie wir Wohnen und Mobilität aber auch kulturelle Angebote und unsere öffentlichen Unternehmen mit der Energiewende klarkommen. Die wirft Fragen nach der Zukunft von Berufen in den energieintensiven Branchen auf und lenkt noch einmal den Fokus darauf, wo der Transformationsdruck schon länger wirkt – etwa im Automobilbereich.

Oder bei der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge, für die sich so viele Menschen in Thüringen engagiert haben. (Um auch einmal diese Seite zu betonen und nicht immer nur die lautstarken Minderheiten, die gegen alles sind.) Da kommen Menschen auch, um zu bleiben – und das ist ein Gewinn: In einem älter werdenden Land brauchen wir einfachere, solidarischere Möglichkeiten der Zuwanderung, brauchen wir Regeln, die unsere neuen Nachbarinnen und Nachbarn schneller ermöglichen, mitzumachen am Gemeinsamen – aber auch darüber mitzuentscheiden. 

Wenn ich die öffentliche Debatte zu solchen Themen verfolge, die oft aggressive Lautstärke vor allem rechts der Mitte, dann ärgert mich das. Auch deshalb, weil es die übergroße Mehrheit für dumm verkauft, so als ob die Menschen nur eigennützige Ignoranten wären. 

Das sind die meisten überhaupt nicht, und ihre kluge, offene, die Probleme mitbedenkende Sicht hängt auch nicht davon ab, ob man auf dem Land oder in der Universitätsstadt wohnt, ob man sich den Bio-Fleischer leisten kann oder als Pendler viel Spritgeld ausgeben muss. 

Wir sitzen alle im selben Boot. Wer sich Sorgen um seine und die Zukunft seiner Liebsten macht, dem bringen Parolen nichts. Die erzeugen höchstens Empörung und Abwehr – statt Hoffnung zu vermitteln und Aufbruchsgeist zu wecken. 

Das ist, was die Mehrheiten wollen. Wir sollten also öfter über sie reden und vor allem mit ihnen. Denn da erfährt man nicht nur berechtigte Sorgen, sondern auch Ideen, Erfahrungen, Wissen, wo und wie am besten geholfen werden kann, damit der soziale und ökologische Neubau schneller und erfolgreicher ins Werk gesetzt werden kann. Und na klar, damit enden noch nicht automatisch die Konflikte. Lasst uns sie konstruktiv führen.

Dass für Klimaschutz weit mehr getan werden muss, wird von niemandem mehr in Abrede gestellt, der noch etwas von Aufrichtigkeit hält – der gesellschaftliche Konflikt dreht sich um das Wie und die eingesetzten Mittel, um Interessengegensätze zwischen fossil-gebundenem und »grünem« Kapital, um soziale Abfederung und wo es wirklich weniger Verbrauch geben sollte. Es gibt Konflikte um Technologie. Über allem schwebt die Zeitfrage, denn die künftige Freiheit und Chancen unserer Kinder und Enkel werden heute mitverhandelt werden.

Dass die demographische Herausforderung enorm ist, bezweifelt auch kaum noch jemand, weil alle es selbst in ihrem Alltag spüren – bei der Pflege von Angehörigen, weil der Bäcker im Ort aus Altersgründen schließt, weil die Schule schon wieder einen Lehrer sucht. Der gesellschaftliche Konflikt dreht sich darum, wie wir darauf am besten reagieren können, in dem wir Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Gesundheitssystem und Altersversorgung besser machen.

Dass ein riesiger Bedarf an Ausbau und Stärkung des öffentlichen Sektors nötig ist, haben die Krisen der vergangenen Jahre deutlich gemacht. Der gesellschaftliche Konflikt dreht sich darum, wie wir zu digitalisierten Gesundheitsämtern, sanierten Schulen, schnelleren Verwaltung kommen und wie wir das finanzieren, wie wir die dafür nötige Umverteilung ausgestalten. Auch die große Frage, ob eher der Staat eingreifen oder eher »der Markt« entscheiden solle, spielt hier eine wichtige Rolle, ebenso räumliche Aspekte der sozialen Daseinsfürsorge und Stadt-Land-Ungleichheiten.

Diese drei großen Themen sind vielfältig untereinander verbunden. Klimaschutz und Ausbau öffentlicher Daseinsvorsorge zum Beispiel brauchen enorme Investitionen. Die Schuldenbremsen wirken hier als Blockade und werden von den »Parteien des Gestern« verteidigt.

Gelingender Klimaschutz braucht ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge, um Belastungen solidarisch abzufedern – er kann zugleich aber selbst verteilungspolitisch hin zu mehr Gleichheit wirken. 

Klimazerstörungen, die vom globalen Norden ausgehen, berauben immer mehr Menschen im globalen Süden ihrer Heimat und mahnen uns deshalb zu mehr als Gastfreundschaft – zu einer neuen Bleibefreundschaft. Und wir willkommen die neuen Nachbarinnen und Nachbarn, um zu erhalten, was uns lieb geworden ist, und um zu gestalten, was nötig sein wird.

Wir können diese drei großen Themen als »Probleme« beschreiben. Das zieht aber immer ein bisschen runter. Nennt man sie »Herausforderungen«, wir schon ein bisschen deutlicher, dass wir eigentlich die Mittel und Ideen für soziale, ökologische Lösungen haben. Sprechen wir von Entwicklungsfeldern, klingt das zwar irgendwie technisch, aber es zeigt sich noch besser, dass es jetzt darum geht, Zukunft zu machen. 

Wir werden einiges ändern müssen, aber wir werden dabei viel gewinnen. Saubere Luft und mehr Grün in den Städten, neue Jobs und heute noch unbekannte Chancen, mehr Gemeinsamkeit und die innere Überzeugung, etwas Richtiges zu tun für einen selbst und für alle anderen. 

Das wird nicht einfach, aber es kann werden. Die Betonung liegt hier auf dem zweiten Teil des Satzes. Weil Hoffnung und etwas Optimismus auch dazu beitragen, dass Veränderung Spaß macht. Dafür brauchen wir Möglichkeiten der Mitentscheidung, dazu werden wir Alltagssorgen berücksichtigen, dazu ist demokratische Aushandlung wichtig.

Wir werden sicher auch über Zielkonflikten reden müssen, darüber: Was brauchen wir am schnellsten, wo muss am dringendsten umgebaut werden, wer sollte am zügigsten unterstützt werden – und was wird demzufolge noch ein bisschen warten müssen? 

Ein Aufbruch, wie ich ihn mir vorstelle und wie wir ihn in Thüringen ja längst begonnen haben, wird das Große im Blick behalten ohne das Kleine zu übersehen. Was ich bei der Tafel in Weimar, in den Ausschüssen im Bundestag oder bei der Wohnungsgenossenschaft in Erfurt an konkreten Wünschen höre, zeigt, was für Lösungen nötig – aber auch möglich sind. Lasst uns Mut zum Mitmachen und Vorangehen stiften, Möglichkeiten zur Entfaltung schaffen und dafür Sorge tragen, dass niemand zurückbleibt. Dabei können wir LINKE in Thüringen auf Vertrauen setzen. Kontinuität schafft Sicherheit. Und wir wissen, dass Politik nicht nur eine Frage des Kopfes ist, sondern auch des Herzens.

(zuerst erschienen in: Das rote Ginkgoblatt. Magazin der LINKEN in Weimar und dem Weimarer Land)