Demokratiepolitisch schädlich und in der Sache falsch
Das Wahlrecht ist eine tragende Säule unserer demokratischen Verfasstheit. Dennoch hat die Ampel in dieser Woche eine so gravierende Änderung wie den Wegfall der Grundmandatsklausel innerhalb weniger Tage durch den Bundestag gedrückt. Das ist nicht akzeptabel. Solch ein Umgang ist demokratiepolitisch schädlich und in der Sache falsch. Und natürlich entsteht der Eindruck, es gehe dabei darum, politischen Mitbewerbern Steine in den Weg zu legen.
Dies ist eine gravierende Änderung mit Folgen. Damit stellt sich die Ampel gegen den weit überwiegenden Wunsch der Bevölkerung, die es für sehr wichtig hält, dass das Wahlrecht keine Partei bevorteilt, wie eine aktuelle Allensbach/Bertelsmann-Studie zeigte.
Es gibt begründet viel Kritik am neuen Wahlgesetz. Der Verein »Mehr Demokratie« etwa beklagt, dass mit der Reform der Ampel-Koalition zwar das Ziel erreicht werde, »die Größe des Bundestags deutlich zu reduzieren. Das begrüßen wir. Jedoch ist die Streichung der Grundmandatsklausel dafür unnötig und demokratiepolitisch bedenklich«.
Das sehen auch andere Expertinnen und Experten so. »Auf Nachfrage spricht sich jetzt sogar eine Mehrheit der Sachverständigen gegen die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel aus«, berichtet die TAZ über die von SPD, Grünen und FDP kurz vor Toreschluss noch abgeänderten Reform des Wahlgesetzes. »Würde der Bundestag vor der Abstimmung eine neue Anhörung durchführen, wäre das Echo für die Ampel-Fraktionen verheerend: Aus verschiedenen Gründen lehnen fast alle der Sachverständigen die Reform in ihrer jetzigen Form ab.«
Schon in der Anhörung im Bundestag im Januar hatten es die von den Regierungsfraktionen ins Rennen geschickten Juristinnen und Juristen Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers als »unabdingbar« bezeichnet, die Grundmandatsklausel beizubehalten – um die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb zu wahren. »Nur eine ergebnisneutrale Reform stelle sicher, dass die zustimmenden Parteien nicht auch ihre eigenen politischen Interessen verfolgten«, so formuliert es die TAZ.
Mit anderen Worten: Es läge sonst der Verdacht nahe, dass SPD, Grüne und FDP eine Reform zum eigenen Vorteil durchpauken. Der in Frankfurt am Main lehrende Rechtsprofessor Uwe Volkmann kam mit Blick auf den ursprünglichen Gesetzentwurf noch zu dem Ergebnis, dieser falle »im Großen und Ganzen wettbewerbsneutral aus«; nach der Änderung befand Volkmann, nun sei es »mit der Wettbewerbsneutralität der Reform insgesamt vorbei«.
Volkmann erinnerte zudem daran, dass »der starken regionalen Konzentration einer Partei eine besondere Bedeutung zukommen, die sich dann in der Notwendigkeit einer hinreichenden Repräsentanz im Parlament ausdrückt«, entsprechend habe das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit auch die Grundmandatsklausel als verfassungsgemäß betrachtet.
Susanne hat in der Diskussion um die Reform hervorgehoben, dass, wenn die Grundmandatsklausel gestrichen wird, über die Sperrklausel nicht geschwiegen werden dürfe. Denn mit der Streichung kann sich folgendes Bild ergeben: Eine Partei gewinnt 32 Direktmandate, scheitert aber an der Fünf-Prozent-Hürde. Dann würden diese 32 Personen nicht in den Bundestag einziehen, obwohl 32 Abgeordnete 5 Prozent der Mitglieder des Bundestages bei einer Größe von 630 Abgeordneten ausmachen.
Erkennbar wäre dies nicht vereinbar mit dem angeblichen Sinn und Zweck der Sperrklausel. Bislang reichte es aus, Wahlkreisbeste zu sein, um in den Bundestag einzuziehen. Nach der Reform der Ampel könnten durch Zweitstimmen gedeckte Erststimmen von Wahlkreisbesten nicht zum Mandat führen, obwohl die grundlegende Bedingung – die Zweitstimmendeckung – gegeben ist. Es gibt in der Folge nicht eine Bedingung für Wahlkreisbeste, sondern zwei Bedingungen. Damit ist die Chancengleichheit nicht gewahrt.
»Der Bundestag wäre ohne Grundmandatsklausel weniger repräsentativ«, hatte auch Mehr Demokratie e.V. gewarnt. »Bereits jetzt bleiben aufgrund der Sperrklausel bei jeder Wahl mehrere Millionen Stimmen unberücksichtigt (2021: 3,9 Millionen Stimmen). Mit der Abschaffung der Grundmandatsklausel könnte diese Zahl noch einmal deutlich steigen.« Bisher konnte die Grundmandatsklausel die »negativen Auswirkungen der Sperrklausel auf den Grundsatz der Gleichheit der Wahl« abmildern. Ihr Wegfall bedeute einen Schlag für Vielfalt und Fairness im Wahlrecht.
Auf ein weiteres Problem weist der Staats- und Verfassungsrechtsexperte Sebastian Roßner hin: Nicht nur Parteien mittlerer Größe wie CSU oder die LINKE seien potentiell negativ betroffen. »Auch Kleinparteien müssen dem Entwurf nach Federn lassen«, denn nach dem neuen Wahlgesetz »dürfen Parteien in Zukunft nur noch dann Wahlkreisbewerber aufstellen, wenn sie zugleich eine Landesliste aufstellen. Das ist wegen der oben beschriebenen Bindung der Direktmandate an das Zweitstimmenergebnis konsequent, stellt aber für Kleinparteien ein besonderes Problem dar.«
Wie Roßner ausführt, müssen Parteien, die nicht in Bundestag oder einem Landtag vertreten sind, bis zu 2.000 Unterstützungsunterschriften von Bürgerinnen und Bürgern einsammeln, die im jeweiligen Land wahlberechtigt sind, um eine Landesliste einreichen zu können. »Daher weichen kleine Parteien oft darauf aus, nur Wahlkreisbewerber aufzustellen – und zwar dort, wo die lokalen Parteiorganisationen hinreichend stark sind, um die für eine Direktkandidatur nötigen 200 Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Diese Möglichkeit, als Partei an Wahlen teilzunehmen und so sichtbar zu werden, soll in Zukunft wegfallen.«
Nicht zuletzt unterlässt es die Regierungskoalition, längst überfällige Verbesserungen am Wahlrecht vorzunehmen. Zum Beispiel wird weiterhin eine Paritätsregelung verweigert, die eine gleichberechtigte Vertretung von Männern und Frauen im Bundestag ermöglicht. Dies haben unter anderem die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und die Vorsitzende der UN-Women in Deutschland, Elke Ferner, kritisiert.
»Für eine funktionierende, gerechte und zukunftsfähige Gesellschaft braucht es die Beteiligung aller Geschlechter«, so Süßmuth. Frauen würden »schlichtweg ignoriert«, die Gefahr sei groß, dass sich der mit unter 35 Prozent ohnehin geringe Anteil von Frauen im Bundestag weiter verkleinere. Ferner forderte, »wir brauchen ein Paritätsgesetz noch in dieser Wahlperiode«. Die Linksfraktion hatte dazu wie auch für ein modernes Ausländerwahlrecht und eine Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 drei Anträge vorgelegt. (aus Susannes Büros)