Stichwort: Ersatzfreiheitsstrafe

Zehntausende sitzen jedes Jahr eine Ersatzfreiheitsstrafe ab, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. Für Arme ist es der häufigste Grund geworden, ins Gefängnis zu kommen. Ein Skandal. Schon länger drängen Linke und Bündnisse darauf, dieses Instrument der sozialen Diskriminierung zu beenden. Inzwischen liegt ein Reformvorschlag der Ampel-Koalition vor. Doch der geht den Kritikerinnen und Kritikern nicht weit genug.

»An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag.« So lautet Paragraf 43 des Strafgesetzbuches. Es geht hierbei um geringfügige Straftaten, etwa Fahren ohne gültigen Fahrschein oder Lebensmittel-Diebstahl, bei denen Menschen in den meisten Fällen zu Geldstrafen von drei Monatssätzen oder weniger verurteilt werden.

Die Regel hat viel Kritik auf sich gezogen, denn Ersatzfreiheitsstrafe müssen vor allem Menschen mit geringen Einkommen und ohne Vermögen antreten. Mit wachsender Zahl derer, die von Armut betroffen sind, ist laut Expertinnen und Experten auch die Zahl derer gestiegen, die im Falle einer verhängten Geldstrafe wegen Zahlungsunfähigkeit inhaftiert werden. Viele sind obdachlos, haben Abhängigkeitserkrankungen. 

»Die Ersatzfreiheitsstrafe ist mittlerweile die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland. Es ist eine Haftstrafe für Menschen, die ihre vom Gericht auferlegte Geldstrafe nicht bezahlen«, heißt es beim Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe. »Jedes Jahr werden so in Deutschland über 50.000 Menschen inhaftiert – und zwar in der Regel nicht, weil sie nicht zahlen wollen, sondern weil sie nicht zahlen können.«

»Zur Jahrtausendwende machten die Geldstrafen-Schuldner schon knapp die Hälfte aller Menschen aus, die eine Haft antraten, heute sind es sogar mehr als die Hälfte. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland geworden.« Das berichtete der rechtspolitische Korrespondent der »Süddeutschen Zeitung« in einer großen Reportage vor gut einem Jahr: »Im Armenhaus«. 

Steinke hat Anfang 2022 ein Buch über das deutsche Strafsystem, die Justiz und soziale Ungleichheit veröffentlicht: »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz«. Auch darin setzt er sich mit dem »neuen Schuldenturm« auseinander. Die »Tageszeitung« urteilte, Steinke bringe »die schreiende Ungerechtigkeit auf den Punkt: Es gibt keine Gleichbehandlung, sondern es gibt Menschen mit Vermögen und Menschen ohne Vermögen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch eine große Öffentlichkeit erreicht.«

»Zuletzt haben die Justizminister der Länder im Jahr 2019 untereinander Stillschweigen vereinbart, als sie einmal all ihre internen Zahlen zu den Geldstrafen-Schuldnern in den Gefängnissen zusammenlegten, als sie diese Zahlen von ihren Fachleuten analysieren ließen und am Ende ein Ergebnis in Händen hielten«, so Steinke in seiner Reportage. Inzwischen hat »Frag den Staat«, die sich auf Recherchen zur Informationsfreiheit spezialisiert haben, diesen Bericht veröffentlicht.

Die Diskussion über die Ersatzfreiheitsstrafe, ihre sozial eindeutig diskriminierende Wirkung und die Forderungen nach einer Abschaffung der Regelung sind in den vergangenen Jahren immer lauter geworden. 

Im Frühjahr 2018 rechnete zuerst ein Bericht des ARD-Magazins »Monitor« vor, dass durch die Inhaftierung von Menschen, die eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht zahlen, jedes Jahr Kosten von über 200 Millionen Euro entstehen. Denn: Pro Tag kostete 2016 ein Haftplatz in der Bundesrepublik durchschnittlich etwa 130 Euro. Eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ergab eine ähnliche Größenordnung. 

Aus dem Februar 2018 stammt ein Sachstandspapier der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, in der auch Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen erörtert wurden. Zudem nahm man Ersatzhaft im europäischen Rechtsvergleich in den Blick. Später befasste sich die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags mit der »Möglichkeit der Abwendung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch ›freie Arbeit‹«. 

Im April 2018 legte die Linksfraktion im Bundestag den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs vor, in dem eine ersatzlose Streichung der entsprechenden Regelungen zur Ersatzfreiheitsstrafe im Strafgesetzbuch und die Stärkung der gemeinnützigen Arbeit zur Abwendung der Pfändung durch eine neue bundesgesetzliche Regelung vorschlug. Begründung: »Die Ersatzfreiheitsstrafe… ist in ihrer aktuellen Konzeption und ihrer praktischen Anwendung ein Instrument der Diskriminierung von einkommens- und vermögenschwachen Menschen, die häufig am Existenzminimum leben.«

In einer Anhörung von Expertinnen und Experten befand auch der Leiter der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee, Uwe Meyer-Odewald, die Ersatzfreiheitsstrafe sei »aus kriminalpolitischer Sicht für ›absolute‹ Bagatellstraftaten wie die Leistungserschleichung im Sinne von § 265a StGB (›Schwarzfahren‹) nicht mehr vertretbar«. Die »vorrangige Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit sei grundsätzlich deren Vollstreckung vorzuziehen. Die gegenwärtige Lösung gehe am Bedarf der Betroffenen vorbei und zu Lasten des Justizvollzugs«, so fassten die Parlamentsnachrichten damals Meyer-Odewalds Position zusammen. Andere Experten befürworteten die Beibehaltung der Ersatzfreiheitsstrafen.

Bereits im März 2018 hatte die Linksfraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein erreicht werden sollte. »Die Strafe trifft zudem häufig arme und hilfsbedürftige Menschen und Obdachlose, die sich die Fahrkarte nicht leisten können. Gerade bei armen Menschen hat die Strafandrohung auch nicht die gewünschte abschreckende Wirkung, weil die Gelder schlichtweg nicht aufgebracht werden können«, hieß es damals. Bekannt ist, dass jede vierte Person, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, wegen Fahrens ohne Fahrschein einsitzt, die Tendenz steige. Auch zu diesem Gesetzentwurf sowie einem weiteren der Grünen erfolgte 2018 eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen. 

Im Juni 2022 erneuerte die Linksfraktion ihren Vorstoß zur Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein. Zuvor war die Bundesregierung mit einer Kleinen Anfrage ersucht worden, mehr Informationen über die Zahl der wegen Fahrens ohne Fahrschein zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe Verurteilten zu erlangen. Ergebnis: »Die Bundesregierung kann keine Angaben zu den Menschen machen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe aufgrund einer Verurteilung wegen Beförderungserschleichung absitzen.« 

Auch SPD und Grüne haben das Thema aufgegriffen. So forderte etwa die Arbeitsgruppe Sanktionenrecht der Friedrich-Ebert-Stiftung im Sommer 2022, »aus grundlegenden Gerechtigkeitserwägungen« den Paragraf 43 Strafgesetzbuch abzuschaffen. »Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft häufig bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppen und verschärft soziale Ungleichheit. Zudem wirkt Freiheitsentzug schwerer als eine Geldstrafe.« Sollte dies keine Mehrheit finden, sprach man sich für Reformen aus, »unter anderem eine Entkriminalisierung bestimmter Straftatbestände, eine Ablaufänderung der Geldstrafenvollstreckung sowie ein neuer Umrechnungsfaktor zwischen Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe von 3:1«.

In der Bundesregierung ist das offenbar nicht mehrheitsfähig. Zwar steht im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien, »das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung.«

Inzwischen liegt der »Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt« aus dem Hause von Bundesjustizminister Marco Buschmann vor. Dieser sieht im Prinzip vor, dass Menschen, die wegen Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert sind, nur halb so viele Tage im Gefängnis verbrächten wie nach derzeitiger Regel. Die Zahl unbezahlter Arbeitsstunden, die Menschen ableisten müssten, um eine solche Haftstrafe zu vermeiden, wie es im Gesetz auch vorgesehen ist, soll mit dem Buschmann-Entwurf ebenfalls verringert werden. Vorgesehen ist überdies, dass Menschen vor der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe besser informiert werden sollen, dass sie diese durch unbezahlte Arbeit vermeiden oder einen Zahlungsplan aufstellen können.

Unter anderem von Berlins linker Justizsenatorin Lena Kreck kam Kritik. Zwar gehe der Entwurf insofern in die richtige Richtung, als dass die Gefängnistage halbiert würden. »Dennoch halten wir an der grundsätzlichen Kritik an Ersatzfreiheitsstrafen fest, auch wenn der Entwurf von Marco Buschmann immerhin eine deutliche Reduzierung der Ersatzfreiheitsstrafen zur Folge haben dürfte«, so die Senatorin. Die rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag von Brandenburg, Marlen Block, bestand vor wenigen Tagen ebenfalls darauf, das System der Ersatzfreiheitsstrafen zu beenden, eine Reform reiche nicht.

Trauriger Anlass für Blocks Intervention: In der JVA Brandenburg hatte sich im September ein 35-jähriger Gefangener, der dort Ersatzfreiheitsstrafe verbüßte, das Leben genommen. Bereits im Juli dieses Jahres hatte sich ein 42 Jahre alter Häftling in Halle suizidiert, auch er musste dort eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. 

Auch Fachmann Steinke nahm einen dieser Fälle zum Anlass, noch einmal auf eine Reform der Ersatzhaft zu drängen, die wirklich etwas an dem System ändert. Ein System, durch das viele arme Menschen »Inhaftierung erleben, inklusive der Erniedrigung, dem Herausgerissen-Werden aus dem Leben, aus der Familie, inklusive des Stigmas, der Veränderung des Selbstbildes«. An diesem Skandal werde sich »nichts ändern, solange sie nur die Dauer der jeweiligen Haft halbiert«.

Vor wenigen Tagen haben auch das Justice Collective und das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe eine Stellungnahme zum Vorhaben des Bundesjustizministers in Sachen Ersatzfreiheitsstrafen veröffentlicht – mit einer klaren Aussage: Die beteiligten Organisationen, darunter das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Verein demokratischer Ärzte*innen und die Berliner Obdachlosenhilfe, lehnen den Vorschlag von Justizminister Buschmann ab. Dieser ändere »substanziell kaum etwas an der jetzigen Gesetzeslage. Wir fordern stattdessen die sofortige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe.« Unterschrieben hat auch die Initiative Freiheitsfonds, die deutschlandweit Menschen aus dem Gefängnis holt, die wegen »Fahren ohne Fahrschein« hinter Gittern sind.

Am 17. November diskutierten auf Einladung der linken Obfrau im Rechtsausschuss, Susanne Hennig-Wellsow und der rechtspolitischen Sprecherin der Linksfraktion, Clara Bünger, Fachleute, Betroffene und Interessierte in einem sehr gut besuchten Fachgespräch darüber, wie ein alternativer Umgang mit Armutsdelikten aussehen könnte: Was wären Ansätze, welche die Lebenslage von Betroffenen besser berücksichtigen? Wie können mögliche Alternativen zu bestehenden Gesetzen aussehen? Dabei stand die Frage der Ersatzfreiheitsstrafe mit im Zentrum der Debatte, zu der unter anderem die Soziologin und Kriminologin an der Universität zu Köln, Dr. Nicole Bögelein, die Fachanwältin für Strafrecht in Berlin und Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, Franziska Nedelmann, der Politikwissenschaftler, Aktivist und Gründer des Freiheitsfonds, Arne Semsrott und der Jurist, Journalist und Autor des Buches »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz«, Dr. Ronen Steinke beitrugen. (aus Susanne Büros)