Kommt zusammen, Leute

»Runde Tische der Solidarität«, »Lokale Sozialausschüsse«: Ob in der Politik oder im Alltag, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob Genossin, oder nicht – viele von uns lassen lebendig werden, was wir in Beschlüssen gern »praktizierte Solidarität vor Ort« nennen. Genau das ist jetzt unsere vielleicht wichtigste Aufgabe.

Von Susanne Hennig-Wellsow

Seit diesem Sommer wird in Berlin der Heinrichplatz nach Rio Reiser benannt, dem legendären Texter und Sänger der »Ton Steine Scherben«. Der Platz im Stadtteil Kreuzberg wird in den Medien als »in der Szene populär« beschrieben, vielleicht, weil dort öfter einmal linke Demos starten. Aktionen gegen Zwangsräumungen zum Beispiel. Aber auch traditionelle Demonstrationen führen hier entlang, etwa wenn es am 1. Mai um die Kritik der kapitalistischen Verhältnisse geht. Der Platz hat den Namen Rio Reiser verdient. Und Rio diesen Platz.

Ich denke derzeit oft an eine Textzeile aus einem Song von Rio Reiser: »Kommt zusammen, Leute. Lernt euch kennen.« Ich denke daran, während darüber diskutiert wird, mit welchen Aktionen die Linken in diesem Land in den kommenden Monaten in die Auseinandersetzungen um die Verteilung der Krisenlasten eingreifen können. Von einem heißen Herbst ist da die Rede, davon, dass man keinesfalls den Rechtsradikalen die Straße überlassen dürfe, dass der Protest gegen Preissteigerungen und die Politik der Ampel-Regierung eine progressive Stoßrichtung braucht, eine, die auf soziale und ökologische Veränderungen und Solidarität setzt, nicht auf Hass und Ausgrenzung.

Ich denke an Rio Reisers Textzeile, wenn ich von einer Umfrage lese, in der 44 Prozent der Befragten sagen, sie würden wegen der hohen Energiepreise »sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit« auf die Straße gehen. Viele Genossinnen und Genossen, auch viele unserer Wählerinnen und Wähler haben sich so geäußert. 

In Gewerkschaften, in Sozialverbänden, in der Zivilgesellschaft oder in unserer Partei – viele Menschen engagieren sich, damit alternative Ideen zur Lösung der Preis- und Energiekrise lautstark in die Öffentlichkeit getragen werden, etwa der Ruf nach einem weiteren Entlastungspaket, nach staatlichen Eingriffen in die Preisentwicklung, nach Heranziehung von Vermögen und Profiten zur Finanzierung von sozialen Maßnahmen, die wir dringend brauchen. In vielen Städten hat es bereits linke Demonstrationen gegeben. Weitere Aktionen werden folgen, hoffentlich große, bunte, solidarische Demonstrationen. Gegen Energiearmut und für bezahlbaren Alltag. Aber auch für gerechte Lösungen der Klimakrise. 

Beide Fragen hängen miteinander zusammen. Ein großer Teil der Inflation, die vielen Menschen ans Limit bringt, wird von den Preisen für Energie aus fossilen Brennstoffen getrieben. Diese Inflation ist also auch eine Folge politischer Fehlentscheidungen, die den Ausbau erneuerbarer Energien ausgebremst haben. Eine weitere Konsequenz solcher Fehlentscheidungen spüren wir am eigenen Leib: Tage mit extremer Hitze nehmen zu, Wiesen vertrocknen, Wälder verbrennen, Wasser wird mancherorts schon zur Mangelware.

Die Klimakrise ist kein Schreckensszenario mehr, sie ist längst da mit all ihren Folgen. Und auch die Klimakrise trifft, genauso wie die Preiskrise, vor allem Menschen, die nicht so hohe Einkommen haben. Ganz egal, ob es die normale Rente ist, der Lohn für tägliche Arbeit oder zu gering bemessene staatliche Leistungen. Es sind ihre Jobs, die meist zuerst von der so genannten Transformation betroffen sind, es ist ihr Leben, das von der Inflation aufgefressen wird, es sind ihre Wohnquartiere, in denen es zuallererst besonders heiß und stickig wird.

Gemeinsames wiederentdecken

Die Doppelkrise aus Energieinflation und Klimawandel lässt uns wieder besser erkennen, wo die viel zitierte Grenze zwischen Oben und Unten verläuft. Sie lässt uns also auch besser erkennen, wie viel Gemeinsames es gibt zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten, zwischen der Rentnerin und dem Geflüchteten, zwischen der Alleinerziehenden und dem alternativen Hausprojekt, zwischen Jüngeren und Alten, dem selbstständigen Handwerker und der Studentin: den Wunsch, sicher und selbstbestimmt leben zu können; das Anrecht auf sorgenfreien Alltag und soziale Teilhabe; die Chance, gesellschaftliche Veränderungen, die ohnehin längst laufen, demokratisch mitzuentscheiden. 

Demonstrationen können politischen Forderungen Ausdruck verleihen. Und das ist wichtig. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir aber auch, dass nicht jede und nicht jeder zu einer Demonstration geht. Weil gerade kein Geld übrig ist, in die nächste Stadt zu fahren. Oder weil einfach die Zeit fehlt in einem Alltag, der viel von uns abverlangt im Alltag. Es liest auch nicht jede und jeder in der Zeitung von den hoffentlich großen Demonstration, mit denen der oft beschworene »gesellschaftliche Druck« auf die Bundesregierung gemacht wird. 

Na klar: Dort, bei der Ampel liegen entscheidende Hebel zur Lösung der Probleme. Aber es wird auch darauf ankommen, dass wir uns selbst vor Ort in Bewegung setzen, dass wir uns im Alltag gegenseitig unterstützen, dass wir zuhören, auch einmal eine Schulter bieten zum Ausweinen, dass wir also dafür sorgen und dabei helfen, dass es bei uns, in unserem Leben wieder wirklich geschieht: »Kommt zusammen, Leute. Lernt euch kennen.«

Wir LINKE haben eine lange Tradition, in der »das Kümmern« eine wichtige Rolle spielt. So war es in den schwierigen Jahren ab 1990. So ist es noch heute in der Kommunalpolitik mit ihren vielen tausend Engagierten. Und so versteht auch die linksgeführte Thüringer Landesregierung ihre Verantwortung, gerade in schweren Zeiten wird dann sichtbar, dass es einen Unterschied macht, wer regiert.

Was können wir konkret tun?

Ob in der Politik oder im Alltag, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob Genossin, Genosse oder nicht, viele von uns lassen lebendig werden, was wir in linken Programmen oder Beschlüssen gern »praktizierte Solidarität vor Ort« nennen. Genau das ist jetzt unsere vielleicht wichtigste Aufgabe. 

Was können wir konkret tun, wenn Menschen aufgrund der Folgen der Preissteigerungen in existenzielle Nöte geraten? Wie können wir noch besser Möglichkeiten für jene schaffen, die solidarisch aktiv sein wollen? Wie können wir als LINKE noch wirksamere Beiträge dazu leisten, jetzt »von unten« Menschen, Organisationen, Verbände, Hausgemeinschaften, Freundeskreise, Vereine zusammenzubringen? Wo können wir Orte der Begegnung ausbauen, bei denen die, um deren Leben, um deren Wohngebiete, um deren Arbeit, Alltag und Zukunft es geht, miteinander ins Gespräch kommen können?

Stellt euch »Lokale Sozialausschüsse« in eurer Gemeinde vor, in denen wir LINKE mit Vertreterinnen und Vertretern von örtlicher Tafel, Stadtteilmanagement, Volkssolidarität, Mieterbund, Verbraucherzentrale, Handwerk und anderen über Möglichkeiten von Hilfe und Selbsthilfe beraten. Stellt euch »Runde Tische der Solidarität« vor, an denen wir mit anderen koordinieren können, welche Räume zur Verfügung stehen, welche Kontakte in die Politik wir nutzen, welche Ressourcen wir zusammenbringen können. Stellt euch in eurer Nachbarschaft Orte der Begegnung vor, wo Menschen zusammenkommen, über ihre Sorgen aber auch Träume reden und sich auch einmal ausheulen können, wenn die Probleme des Alltags unüberwindbar erscheinen. Stellt Euch vor, was wir dabei voneinander lernen können, über das, was Menschen bewegt, welche Vorstellungen sie haben, was sie sorgt und was sie freut, über Lösungsmöglichkeiten, auf die wir selbst noch nicht gekommen sind. 

Ich weiß, dass Inflationskrise und Klimakrise nicht die einzigen Probleme sind, die uns aktuell beschäftigen. Ich hebe beide aber hier an dieser Stelle deshalb heraus, weil sie eine sehr konkrete lokale Dimension haben: beide betreffen uns vor Ort auf jeweils besondere Weise. 

Wir wissen: Selbst im Falle radikaler Klimaschutzmaßnahmen werden zunächst erst einmal Temperaturanstieg, Hitzewellen, Extremwetter und Trockenheit zunehmen. Die unmittelbaren Folgen haben alle eine soziale und damit auch lokale Dimension, denn ob es nun neue Gesundheitsrisiken sind, ob neue Infrastrukturen und Umbau nötig werden, ob die regionale Landwirtschaft unter Druck gerät – in der Regel werden Menschen mit geringeren Einkommen, werden Beschäftigte und Firmen in bestimmten Branchen mehr belastet werden, sind bestimmte Gebiete eher betroffen oder haben Menschen aufgrund örtlicher Gegebenheiten weniger Chancen, sich der Folgen der Klimakrise zu erwehren. 

Maßstäbe für Veränderung

Wir wissen auch, dass nicht alle gleichermaßen von der Inflation betroffen sind, selbst wenn die Preise für alle steigen. Aber dort, wo geringe Einkommen und fehlende Rücklagen »normal« sind, wo es besondere Belastungen aufgrund der örtlichen Struktur von Bebauung und Wärmeversorgung gibt, haben es die Leute eben besonders schwer. Das gilt dann übrigens nicht nur für die Menschen, sondern auch für kommunale Versorger oder öffentliche Wohnungsgesellschaften, für Handwerk, Vereine, Kultur… 

Soziale Entlastung von der Inflation und linke Anpassungspolitik gegen die Folgen der  Klimakrise verbindet, dass diejenigen dabei ins Zentrum gehören, die am stärksten betroffen sind. Ihre Erfahrungen, ihre Vorschläge, ihre Wünsche sind Maßstab für dringend nötige Veränderungen. Und sie sind es, die demokratisch und vor Ort über diese Veränderungen mitentscheiden sollten. Deshalb Rio Reiser: Denn beides beginnt dort, wo Leute zusammenkommen und sich kennenlernen.

Ich weiß, dass ich hier nur ausspreche, was viele in der LINKEN ohnehin umtreibt und was sie bereits tun. Bei Vernetzung fangen wir nicht bei Null an, bei Selbsthilfe haben wir Erfahrungen, über verbindende Praxis haben wir schon so oft gesprochen und unsere Hände ausgestreckt. Wir können aufbauen auf unserem kommunalpolitischen Fundament und auf eine engagierte Basis zählen . Und wir wissen, wer bei uns vor Ort noch alles am selben Strang ziehen will, Freunde, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Verbände. »Kommt zusammen, Leute« – erst recht, wenn wir uns schon kennen. 

Wir diskutieren gern darüber, welcher Weg für die LINKE der richtige ist. Wir streiten uns gern über Grundfragen und weltpolitische Themen. Das ist auch keineswegs ein Nachteil, jedenfalls dann nicht, wenn wir dabei nicht aus dem Auge verlieren, was als »klein« erscheinen mag, in Wahrheit aber gerade jetzt die große Herausforderung ist: unser Engagement vor Ort.

Was wir seit Monaten in einer bisher nicht gekannten Härte um uns herum erleben, die enormen Preissteigerungen und die immer krasser spürbaren Folgen der Klimakrise, sind Prüfstein – nicht nur für uns LINKE, sondern für alle, die eine bessere, sozialere und ökologischere Welt wollen. Und das sind viele. An sie, an uns denke ich also, wenn mir in diesen Wochen immer wieder die Textzeile aus dem Lied von Rio Reiser in den Kopf kommt: »Kommt zusammen, Leute. Lernt euch kennen.«

Dieser Text erschien zuerst im Spätsommer im »Roten Ginkgoblatt« der Weimarer LINKEN. Er wurde hier geringfügig aktualisiert.